Selbstschuld: Zur Kritik des Besitzindividualismus

Katja Diefenbach

Veranstaltungsreihe

Schuld und Schulden. Leben im Debtfare-Staat

Studienrichtung

Fachbereich Theorie

Ort & Zeit

Di, 26. Jan 2016, 19:30 Uhr

Katja Diefenbach, Kulturwissenschaftlerin und Professorin für Ästhetische Theorie an der Merz Akademie, zeigt in ihrer Antrittsvorlesung anhand der Kontroverse zwischen Hobbes und Spinoza, wie sich die Entstehungsgeschichte der Weltwirtschaft in die moderne politische Philosophie eingeschrieben hat und debattiert die Aktualität von Spinozas Kritik des Besitzindividualismus.

Einem theoretischen Erdbeben gleichkommend revolutionieren Hobbes und Spinoza im 17. Jahrhundert das Denken menschlicher Handlungsfähigkeit. Sie lösen die Praxis der Menschen von jeder wesenhaften Zweckbestimmung, von Ziel und Pflicht, von allen gebotenen Aufgaben ab: Von nun an können die Menschen alles machen, was sie im Rahmen ihrer Umstände zu tun vermögen. Die Ordnung der Pflicht wird durch die Ordnung der Fähigkeiten ersetzt. Menschsein wird im grundlegendsten Sinne Könnensein.

Aus diesem Egalitarismus des Tuns ziehen Hobbes und Spinoza in einem atemberaubenden Tempo, Schlag um Schlag, Argument um Argument entgegengesetzte Konsequenzen: Hobbes begreift das Naturrecht ausgehend vom Tötenkönnen des Einzelnen, Spinoza vom Lebenmachen der Vielen. Hobbes identifiziert das Begehren als individuelles Überlebenwollen, Spinoza als kollektives Bejahen von Schöpfungskraft. Hobbes will die gesellschaftliche Beziehung im Souverän aufheben, Spinoza den Souverän auf der gesellschaftlichen Beziehung gründen. So hat sich tief in die Anfänge der neuzeitlichen Philosophie ein Streit über die Fragen der Aneignung, der Schuld und der Souveränität eingeschrieben, der die Gewalttätigkeit der frühmodernen Staatsgründungen und der ökonomischen Globalisierung reflektiert und in seiner Extremität bis heute Philosophie und Ästhetik beschäftigt.

Wie widersprüchlich allerdings die zeitgenössischen Versuche sind, mit Spinoza Hobbes zu überwinden, der wie kein anderer die gesellschaftliche Beziehung als Delikt- und Tötungsbeziehung schuldig gesprochen hat, wird Katja Diefenbach an Deleuzes und Agambens Kritik des Besitzindividualismus zeigen. Inspiriert von Spinoza präsentieren diese Autoren zwei Ideen schöpferischen Seins, die beide unmittelbar politisch sein wollen und Hobbes’ konkurrenziellem Überlebens- und Übermächtigungsstreben entgegentreten: Die deleuzesche ist kreativ und unpersönlich, die agambensche de-aktivierend und persönlich. Sie erkennt das Eigene im Fehlen alles Eigenen. Agamben kehrt den Besitzindividualismus um, indem er davon ausgeht, dass sich die Menschen allein im Nichtbesitz besitzen können und ihre Handlungsfähigkeit im Nichthandeln erfahren. Wie ist das zu verstehen, und was hatte Deleuze dagegen einzuwenden?